Welche Technikstandards gibt es?

Viele Verträge enthalten einen Passus, der beschreibt an welchen Technikstandard sich das zu liefernde Produkt bzw. die Dienstleistung zu halten hat. Hier wird bei Softwareverträgen oft auf den Stand der Technik, die Regeln der Technik oder Normen verwiesen. Das alleine reicht jedoch bei weitem nicht, da weder der Stand der Technik, noch die Regeln der Technik, noch IT Normen gut genug definiert sind, um deren Einhaltung unzweifelhaft festzustellen. Aber es ist zumindest ein grober Hinweis darauf, was diesbezüglich geschuldet wird. Doch wie unterscheiden sich diese Technikstandards überhaupt?

Stand der Technik und Regeln der Technik sind juristische Technikklauseln, die in verschiedenen Rechtsgebieten Verwendung finden (z.B. für Gewährleistung oder Schadenersatz). Es wird zwischen folgenden 3 Stufen unterschieden:1

  1. Regeln der Technik - "technische Regeln, die aus Wissenschaft oder Erfahrung auf technischem Gebiet gewonnene Grundsätze enthalten und deren Richtigkeit und Zweckmäßigkeit in der Praxis allgemein als erwiesen gelten"2
    ... beruhen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen oder praktischer Erfahrung; die Mehrheit der Praktiker sind von ihrer Richtigkeit und Zweckmäßigkeit überzeugt (greifen wegen des dafür nötigen breiten fachlichen Konsens erst relativ spät Neuerungen und technische Fortschritte auf)
  2. Stand der Technik - "der auf den einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Entwicklungsstand fortschrittlicher technologischer Verfahren, Einrichtungen und Betriebsweisen, deren Funktionstüchtigkeit erprobt und erwiesen ist"3
    ... wie Regeln der Technik, beruhen aber zwingendermaßen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen (praktische Erfahrung alleine reicht nicht); erreichen den damit verfolgten Zweck erwiesenermaßen (allgemeine Überzeugung alleine reicht nicht); sind Entwicklungsstand (benötigen keine allgemeine Anerkennung); sind fortschrittlich (besseres Kosten/Nutzenverhältnis als andere)
  3. Stand der Wissenschaft - "der auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende höchste verfügbare Wissensstand betreffend technologische Verfahren, deren Funktionstüchtigkeit erprobt und erwiesen ist."4
    ...wie Stand der Technik, muss aber nicht nur fortschrittlich sein, sondern dem höchsten verfügbaren Wissensstand entsprechen (bester Nutzen; Kosten irrelevant)

Die Einhaltung von Normen lässt eine Einhaltung der anerkannten Regeln der Technik vermuten (wäre also vor Gericht ausreichend um das zu belegen). Ihre Einhaltung ist aber keineswegs verpflichtend oder Voraussetzung für die Einhaltung eines Technikstandards. Wie bereits im Blogpost über IT-Normen ausgeführt, ist auch keineswegs klar, was genau zu tun bzw. zu unterlassen ist, um einer IT-Norm zu entsprechen.

Dasselbe gilt auch für die anerkannten Regeln der Technik, den Stand der Technik und den Stand von Wissenschaft und Technik. Es handelt sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, deren Inhalt erst konkretisiert werden muss, ehe sie praktisch angewendet werden können. Es gibt kein Regelwerk, das im Detail beschreibt, was zu tun bzw. zu unterlassen ist, um dem jeweilig verlangten Technikstandard zu genügen. Eine diesbezügliche Einordnung ist daher Interpretationssache und vor Gericht durch einen Sachverständigenbeweis zu belegen. Wie man im Detail belegt, dass der jeweilige Technikstandard erreicht wurde, siehe den kommenden Blogpost "Wie belegt man die Einhaltung des Standes der Technik".

Fazit: Es gibt drei aufeinander aufbauende Technikstandards. Dabei handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe ohne dahinterstehende Anweisungen, was genau zu tun bzw. zu unterlassen ist, um dem jeweiligen Standard zu entsprechen. Dennoch haben sie rechtliche Relevanz und Produkthersteller/Dienstleister müssen belegen können, ob und welcher Standard erreicht wurde.

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1. vgl. Kalkar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts  bzw. Oliver Völkel: Neues Verständnis der Technikklauseln und ihr Verhältnis zu den technischen Normen. 2010, doi:10.25365/thesis.8608 

2. siehe Oliver Völkel: Neues Verständnis der Technikklauseln und ihr Verhältnis zu den technischen Normen. 2010, Seite 73; doi:10.25365/thesis.8608 

3. zum Stand der Technik gibt es mehrere Legaldefinitionen, die aber größtenteils Wortident sind. Die hier geschriebene Integrierte Fassung ist die für Software heranzuziehende. Siehe Oliver Völkel: Neues Verständnis der Technikklauseln und ihr Verhältnis zu den technischen Normen. 2010, Seite 89; doi:10.25365/thesis.8608 

4. Der Stand der Wissenschaft ist in den Gesetzen nicht exakt definiert, es lässt sich aber folgende mögliche Legaldefinition ableiten: siehe Oliver Völkel: Neues Verständnis der Technikklauseln und ihr Verhältnis zu den technischen Normen. 2010, Seite 126; doi:10.25365/thesis.8608 

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